Vortrag: Lebendige Demokratie - ihr Wert für den Menschen

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde der Demokratie, Ich freue mich sehr, dass wir den heutigen Abend dem wichtigsten Gut widmen dürfen, dass wir hinsichtlich unserer Staatsform besitzen, der Demokratie. In der Überschrift zur heutigen Einladung heißt es dabei: Lebendige Demokratie- ihr Wert für den Menschen. Ich gehe noch weiter und stelle mir die Frage: Demokratie- ein schützenswertes Gut – wie gut ist sie zu schützen bzw. wie stark muss sie geschützt werden?

Ich möchte mit einem Ausspruch beginnen, der auch in einer Seminararbeit einer Schülerin von mir an den Beginn ihrer Seminararbeit, in der sie die Verfassung der Weimarer Republik mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verglich, gestellt wurde: „Wer in der Demokratie schläft, wächst in der Diktatur auf“! Diese Aussage, dessen Herkunft sich nicht mehr nachweisen lässt, soll den Beginn aber auch die Richtschnur und Quintessenz meiner Gedanken über die Demokratie darstellen. Gerade in einer Zeit, in der – Gott sei Dank – Hunderttausende, ja Millionen auf die Straße gehen, für Demokratie, für Vielfalt und Offenheit, für Zusammenhalt, für ein gelingendes Morgen und nicht für ein reines Festhalten am Heute und der Vergangenheit, gerade in dieser Zeit sollte man sich des eigentlichen Sinnes und Wertes, aber auch des Ursprungs der Demokratie bewusst werden. Und man sollte m.E. nie aus dem Auge verlieren, dass es Demokratie nicht zum Nulltarif gibt, noch nie gab und eben auch nie geben wird. Dieser Vortrag versucht daher auch einen kleinen historischen Abriss der Demokratie zu bilden und möchte helfen, das Verständnis für Demokratie und seine Entwicklung besser einordnen zu können. Dabei möge auch zum Ausdruck kommen, dass viele der Verhaltensweisen von heute so oder so ähnlich auch in früheren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden festzustellen waren. Demokratie kommt von „Demos kratein“, was soviel wie Volksherrschaft meint. Möchte ich aber eine Herrschaft ausüben, noch dazu als ganzes Volk, so kann ich mich nicht zurücklehnen und auf irgendjemanden anderen warten, der das für mich übernimmt. Denn wenn viele sich zurücklehnen und die Arbeit in einer Gesellschaft nur dem jeweils anderen überlassen – häufig aus Bequemlichkeitsgründen oder aus einer gewissen Angst heraus, sich mit Widerrede oder gar persönlichen Angriffen auseinandersetzen zu müssen - , dann wird es kritisch. Dann kristallisiert sich nicht selten jemand heraus, der das zu nutzen weiß. Für sich, für seine Zwecke, für einen zunächst kleinen Teil der Bevölkerung. Ja, und dann liegt eines gerade nicht mehr vor: Richtig, die Demokratie. Dann reden wir von Autokratie (unumschränkte Staatsgewalt in der Hand eines einzelnen), einer Oligarchie (Herrschaft von wenigen), vielleicht auch einer von Ochlokratie (Herrschaft durch den Pöbel). Auch wenn uns diese Begriffe gar nicht mehr soviel sagen, sie gibt es seit Jahrtausenden, und seit Jahrtausenden ist es das ewig gleiche „Spiel“. Schon immer gab es einen Kreislauf der Verfassungen. Der griechische Geschichtsschreiber Polybios hat diesen Kreislauf sehr genau beschrieben. Er spricht von den drei guten Formen Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Denen stehen die drei zugehörigen Verfallsformen Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie gegenüber. Letztere entstehen durch moralischen Verfall (das äußert sich in u.a. Habsucht, Überheblichkeit, Ungerechtigkeit und Herrschsucht). Aus der Monarchie erwächst also die Tyrannis. Diese wird ersetzt durch die Aristokratie, welcher wiederum die Oligarchie folgt. Letztgenannte wird von der Demokratie abgelöst, bis diese selbst durch die Ochlokratie ersetzt wird. Der Kreislauf schließt sich, wenn sich wiederum eine Einzelperson aufschwingt und eine Monarchie installiert. Soweit Polybios vor 2000 Jahren. Bedingt also nicht selten durch ein „Zu gut gehen“, durch Wohlstandsüberfluss in größeren Teilen der Bevölkerung, durch wachsende Dekadenz, durch eine überbordende Zunahme des Individualismus, der Ichbezogenheit, durch abnehmende Solidarität mit den Schwächeren, vor allem aber durch Wegschauen und Bequemlichkeit geraten auch heute die westlichen Demokratien in Zugzwang, ja in Gefahr. Nur eines ist auch klar: Was sich so harmlos anhört und häufig verbale Umsetzung erfährt mit dem vielgehörten „Wann wird ja wohl noch sagen dürfen ..“, war immer auch mit größtem Leid für die Menschen verbunden, mit Krieg und Vertreibung, mit Verfolgung und mit Ermordung. Und hinterher will’s keiner gewesen sein, will’s keiner geahnt oder gewusst haben, auch das ein Indiz dafür, in erster Linie die eigene Haut retten zu wollen. Das mag aus der persönlichen Perspektive noch einigermaßen nachvollziehbar wirken, menschlich, so finde ich, ist es dennoch nicht, und demokratisch schon gleich gar nicht. Aber lasst uns an dieser Stelle mal einen Blick zurückwerfen, in die Ursprünge der Demokratie. Da fällt mir spontan noch eine Werbung aus den 80er Jahren zu einem Hustenbonbon ein: Wer hat’s erfunden? Die Schweizer! Das stimmt aber nur für das Bonbon von Ricola. Die Demokratie und ihre Auseinandersetzung damit, auch wie sie von uns wahrgenommen wird, hat ihren Ursprung im alten Griechenland, in Athen genommen. Als Gründungsvater der Demokratie gilt Solon. Die vielleicht bekanntesten Namen, die sich bereits kurz nach deren Etablierung mit der Demokratie auseinandergesetzt haben, sind wohl die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles. Diese beiden haben die Demokratie zwar nicht erfunden, diese aber in maßgeblicher Weise beeinflusst bzw. selbige kommentiert. Man setzte sich schon zu dieser Zeit mit z.T. jahrtausendealten Texten auseinander und versuchte sie anhand unterschiedlicher Ausprägungen von Problembewusstsein zu deuten. Es tauchten Fragen auf wie: Was ist Macht? Was bedeutet Gerechtigkeit in der Politik? Wer soll wen regieren? Es ist also anzunehmen, dass der Mensch seit seinen frühesten Tagen lernte, politisch zu denken. Die Überlegung, dass man sich gegen eine natürliche Neigung und trotz Freiheitsdrang in ein Herrschaftsverhältnis fügt, um Schutz zu finden oder Güter zu erringen, derer man allein nicht habhaft wird, gehört zur Kultivierung des Lebensraumes von Anfang an. So beschreibt es Marcus Llanque in seiner „Geschichte der politischen Ideen“. Athen besaß etwa 500 v.Chr. die größte Bevölkerung der griechischen Stadtstaaten. Über die Jahrhunderte politischer Entwicklung hatte sich Athen von einer monarchischen Struktur in eine Demokratie verwandelt, in welcher fast alle öffentlichen Fragen unter Beteiligung eines vergleichsweise hohen Anteils der Bevölkerung diskutiert und entschieden wurden. Zentrales Medium der Kommunikation war damals die politische Rede der Bürger auf der Agora, dem Versammlungsplatz. Hier dürfen wir also große Parallelen zu heute mit den Reden im Bundestag oder in den Landesparlamenten feststellen. Platon nun sah diese Art demokratischen Handelns durchaus auch kritisch, da seiner Meinung nach die politische Rede nur die Überredung durch Meinungen anstrebte, nicht die Überzeugung durch Wissen. Eine erstaunliche Parallele zur heutigen Zeit, in der das Wissen nicht selten hinter die Meinung zurücktritt. Verschwörungstheorien machten damals und machen heute die Runde, und wer kein gefestigtes, kein umfangreiches Sachwissen besitzt oder besitzen will, bei dem verfangen solche Theorien sehr viel schneller als bei denen, die sich auf umfangreiche und detaillierte, differenzierte Kenntnisse verlassen können und dies auch wollen. Meines Erachtens wäre es auch deshalb von gesteigerter Bedeutung, dass wir gerade auch heute wieder mehr Spezialisten mit Berufs- und Lebenserfahrung in unsere Parlamente wählen, aus möglichst vielen und unterschiedlichen Professionen, mit einem gerüttelt Maß an ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen (nicht nur solchen in sozialen Netzwerken) und weniger sog. Berufspolitiker, die ihr ganzes Leben beruflich nichts anderes gemacht haben als die jeweiligen Parteiorganisationen zu durchlaufen und sich nach oben zu arbeiten. Diese werden vor allem ihre Wahl bzw. Wiederwahl anstreben, um ihre Existenz, die ja nur auf der politischen Karriere gründet, zu sichern. Sie werden logischerweise verstärkt einer vorgegebenen Parteilinie folgen. Sie werden vermutlich aber weniger ihre selbstgemachte Erfahrungen zum Maßstab nehmen, die zu einem guten Teil halt auch außerhalb der Politik gewonnen werden müssen. Ich möchte all diesen Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern nicht, vor allem nicht pauschal, unterstellen, dass sie nicht auch edle Motive für ihr Handeln hätten, aber es gibt aus meiner Sicht einfach zunehmend zuviele von dieser Art und umgekehrt gibt es zunehmend weniger Personen in den Parlamenten, die wirklich etwas zu sagen hätten, die aber – das gehört auch zur Wahrheit - im Gegensatz zu Erstgenannten viel zu selten die Bereitschaft aufbringen, sich auch einer Wahl, der Grundlage demokratischer Existenz, zu stellen. Sie begründen dies freilich nicht zu Unrecht mit Existenzängsten für sich selbst und ihre Unternehmen im Falle einer Abwahl. Hier sollte es gesetzliche Regelungen geben, die es Bewerbern aus der freien Wirtschaft leichter machen, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Häufig sind diese freilich nicht bereit, sich mit den nicht selten festzustellenden, charakterlichen Niederungen der Parteipolitik auszusetzen. Um zu Platon zurückzukommen: Er kritisiert weiterhin, dass in der Demokratie nicht das Gute angestrebt werde, sondern die mehr oder weniger zufälligen Wünsche und Bedürfnisse. Platon präferiert eindeutig das sog. Philosophenkönigtum, sehr verkürzt widergegeben also die Macht der Klugen. Ob er damit den gesunden Menschenverstand a la Hubert Aiwanger gemeint hat, bezweifle ich. Denn insbesondere der geeignete Charakter eines Politikers, der eben nicht den schnellen Applaus , sondern das Wissen und Streben nach Wahrheit als Richtschnur seines Handelns sieht, war für Platon sehr wichtig. Platon hätte garantiert auch die AfD nicht nur fachlich sachlich gestellt und ihre Unzulänglichkeiten gegeißelt. Er hätte mit Sicherheit ihr Nichtwissen, ihre reinen Sprechblasen und ihre Charakterlosigkeiten bloßgestellt. Aristoteles dagegen differenzierte das eher kritische Demokratiebild Platons und verstand das Politische als eine besondere Form menschlicher Organisation und Kooperation, als HerrschaB unter Freien und Gleichen. Dabei geht er davon aus, dass der Mensch nur in der politischen Gemeinschaft seine sozialen Anlagen voll entwickeln könne. Der Mensch sei nun einmal ein zoon politikon, also ein Wesen, dass in einer Gemeinschaft (einer polis=Stadt) leben möchte. Anders als Platon sah also Aristoteles die Demokratie als Austausch gleichrangiger Meinungen, während Platon eher universelle Maßstäbe und Normen ansetzte, deren Legitimität nicht von einer Bürgerschaft abhängt. Auch im alten Rom gab es Ansätze von Demokratie, aber auch nicht mehr. Selbst in den Jahrhunderten der Republik, die letztlich mit Gaius Julius Cäsar endete, waren die demokratischen Elemente nur ein eher kleiner Teil der Verfassung. Sie zeigten sich unter anderem im Wahlrecht, freilich nur für männliche Vollbürger Roms. Das war es dann aber auch. Und auch dieses war vom Vermögen abhängig. Rom bot vor allem aristokratische und auch monarchische Elemente. Apropos Cäsar: Er war einer der ersten wahren Populisten der Geschichte. Und genau wie die der heutigen Zeit versuchte auch dieser breite Massen zu manipulieren und sich selbst in bestem Licht erscheinen zu lassen. Und aus welchem Grund? Aus demselben, wie das immer wieder im Verlaufe der Jahrhunderte bis in unsere Zeit festzustellen ist, aus reinem Machtkalkül. Im europäischen Mittelalter zeigt sich in allen politischen Gebilden ein Nebeneinander von monarchischen, aristokratischen und demokratischen Prinzipien. Demokratische Mitbestimmung gab es hauptsächlich in den Städten, die in der Regel eine aristokratische Verfassung hatten. In heftigen Kämpfen versuchten Handwerker und ihre Verbindungen (Zünfte) den Patriziern, die meist Kaufleute waren, die Stadtherrschaft streitig zu machen. Die besitzlosen Schichten blieben aber politisch einflusslos. Eine richtige Demokratie gab es also über eine sehr lange Zeit nicht bzw. nicht mehr. Erst mit der französischen Revolution und der vorangehenden Aufklärung, mit welcher Vernunft und persönliche Rechte eine Beachtung fanden, kamen wieder vermehrt demokratische Tugenden zum Vorschein. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Liberte, Egalite, Fraternite) waren ein wunderschönes Motto, aber die Gesellschaft war noch immer nicht soweit, um diese Werte auch durchgehend zu akzeptieren. Es folgten viele weitere, insbesondere vom Nationalismus geprägte Jahrzehnte mit schrecklichen Kriegsereignissen, gipfelnd im Massensterben des ersten Weltkrieges. Erst jetzt, im Angesicht absoluter Zerstörung und millionenfachen Todes, versuchte man in Deutschland einen anderen Weg zu gehen. Ein Weg, der in Weimar so hoffnungsvoll begann und leider genauso dramatisch endete. Der Grundgedanke der Weimarer Verfassung war nämlich, übrigens genauso wie der, der in der Frankfurter Paulskirche 1848 als Verfassung beschlossen worden war, ein guter. Es gab einen Grundrechtskatalog, der z.B. Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie persönliche Freiheit beinhaltete. Leider gab es 1848 eine relativ große Uneinigkeit im Parlament und größere Teile wagten es nicht, auch den letzten Schritt zu gehen und sich von den vorherrschenden monarchischen Elementen loszusagen. Festzuhalten bleibt, dass die Paulskirchenverfassung das fortschrittlichste Verfassungsdokument seiner Zeit darstellte und Grundlage für alle späteren deutschen demokratischen Verfassungen wurde. Die 1919 nach dem Ende des ersten Weltkrieges und dem damit verbundenen Ende des Deutschen Kaiserreichs gegründete Weimarer Republik war dann die erste richtige Demokratie in Deutschland, denn das ganze Volk durfte von nun an in der Politik mitbestimmen. Dies wurde durch die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 auch gesetzlich manifestiert. Politisch waren das nebenbei gesagt gute Jahre der Sozialdemokratie. Sie stellten in den Jahren bis 1932 mehrere Reichskanzler und in Friedrich Ebert den Reichspräsidenten von 1919 bis 1925. Aber die Weimarer Republik hatte mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Demokratie war noch sehr instabil, die Bevölkerung konnte damit und mit ihren „Freiheiten“, aber eben auch ihrer gesteigerten Verantwortung noch zuwenig anfangen. Viele hingen auch noch dem Kaiserreich und dem Kaiser oder König nach (in Bayern gibt es solche immer noch). Sie machten Vertreter der neuen Republik für die Niederlage im ersten Weltkrieg, insbesondere aber auch für die aus ihrer Sicht nachteiligen Verhandlungsergebnisse des Versailler Vertrags verantwortlich. In der Zeit der Weimarer Republik gab es zudem mehrere Putschversuche (der bekannteste ist der Hitlerputsch 1923). All dies, etliches mehr und die Weltwirtschaftskrise 1929 führte zum Erstarken der Nationalsozialisten, die 1932 die Reichstagswahl gewannen und spätestens ab dem Jahre 1933 Deutschland und die ganze Welt in unsagbares Leid stürzten. Und genau an dieser Stelle möchte ich nun auf einen für mich zentralen Punkt zu sprechen kommen. Welche Vergleiche von damals mit heute sind gerechxertigt oder gar unumgänglich? Wie konnte die NSDAP damals politisch so stark werden, obwohl es doch angeblich keiner bemerkt hatte? Wie konnte Antisemitismus und rigorose Judenverfolgung in aller Öffentlichkeit sich ihren Bann brechen, obwohl es doch angeblich keiner so gewollt hatte? Wieso hatte der bei weitem größte Teil der Bevölkerung so teilnahmslos die schrecklichen Umtriebe hingenommen, obwohl man später persönlich beteuert hatte, ganz anders zu denken und angeblich nicht beteiligt gewesen zu sein? War es nur die Angst vor persönlichen Repressalien, war es Bequemlichkeit, oder war es doch der Wunsch zu breiten Masse dazugehören zu wollen und unterstützte man deshalb aktiv das Denken und Handeln der Nazis in großen Teilen der Bevölkerung? Und heute? Läuft man vielleicht allzu gerne dem angeblichen Mainstream, also der gefühlten, weil laut geäußerten Mehrheitsmeinung nach? Ist es vielleicht ein gefühltes Zeichen von Zugehörigkeit, wenn man sich bestimmte Gruppen der Bevölkerung als Sündenböcke sucht, um so von der eigenen Unsicherheit, auch vor Verlustängsten, aber auch vor Kleingeistigkeit, ja vom eigenen Versagen abzulenken? Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich ist der größte Teil der Schuld immer bei denen zu suchen, die hetzen, die ausgrenzen, die millionenfaches Leid relativieren. Aber wir als jetzt lebende und handelnde Bevölkerung dürfen uns gerade damit nicht abgeben und sagen, ein einzelner könne eh nichts dagegen tun und damit ihr Nichtstun entschuldigen. Unsere heutige Gesellschaft ist nicht verantwortlich für das Leid von damals, aber sie ist hauptverantwortlich dafür, dass sich solches Leid nicht wiederholt. Nie wieder ist jetzt, nicht erst morgen! Und dafür braucht es eine starke, eine funktionierende Demokratie, und zwar jetzt. Einen äußerst interessanten Aufsatz über die Demokratie hat der frühere Kulturstaatsminister Julian Nieda-Rümelin verfasst, der im vergangenen Jahr im Magazin „Politik und Kultur „erschienen ist. Ich versuche zentrale Passagen zusammenzufassen. Nieda-Rümelin sieht dabei die Demokratie als ein Projekt der Aufklärung. Er schreibt: Ich zitiere: „Das Ideal der (deliberativen) Demokratie ist der herrschaftsfreie Diskurs. Es gibt keine Hierarchie zwischen den Diskursteilnehmern, alle haben die gleiche Möglichkeit, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen und zu begründen, niemand wird zum Schweigen gebracht, niemand beansprucht für sich die Diskurshoheit. Die Teilnehmer an einem Diskurs begegnen sich auf Augenhöhe, sie hören einander zu, schneiden sich nicht das Wort ab und beenden die Kommunikation nicht willkürlich.“ Zitatende. Da denke ich spontan und mit einem gewissen Grauen an etliche unwürdige Debatten in den Parlamenten, und genauso in den ungezählten politischen Talksendungen im Fernsehen oder sonstwo. Julian Nieda-Rümelin betont weiterhin, dass unbeschadet aller Interpretationsmöglichkeiten eine wichtige Gemeinsamkeit bleibt: Der Einsatz von Herrschaftsmitteln, das Ausnutzen von Machtgefällen, die Unterdrückung missliebiger Meinungen durch dominante Mehrheiten oder mächtige Minderheiten behindern nach seiner Auffassung den Erkenntnisprozess. Die Unterdrückung von missliebigen Meinungen durch mächtige Akteure schließt damit nicht nur einen abweichenden Standpunkt aus, sondern marginalisiert zugleich die Interessen, die diese zum Ausdruck bringen. Das aufklärerische Projekt beruht aber auf der Annahme, dass (ich zitiere wieder) - „der Austausch unterschiedlicher Standpunkte, die möglichst vorurteilsfreie Prüfung von Argumenten, dass Meinungsvielfalt und Widerspruch wissenschaftliche und lebensweltliche Erkenntnis fördern und freie Selbstbestimmung ermöglichen, - dass der Ausgang aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) nur über die Offenheit des Geistes zu erreichen ist.“ Zitatende Nieda-Rümelin stellt sich in diesem Zusammenhang aber auch die Frage, ob dieses aufklärerische Ideal einer freien Diskursgemeinschaft nicht eine große Illusion ist, gerade unter Berücksichtigung der Phänomene der modernen Massenmedien? Er schreibt: Ich zitiere: „In den 280 Zeichen langen Tweets auf X, vormals Twitter, bleibt kein Platz für das differenzierte Argument und den respektvollen Umgang mit Einwänden. Hier gilt es, knapp und so prägnant wie möglich den eigenen Standpunkt zu markieren, um im Strom der Daten und Meinungen Beachtung zu finden. Schon das Bemühen um Begründung kann diese Absicht vereiteln. Argumente langweilen zumeist diejenigen, die diese nicht teilen. Provokationen reizen zu Reaktionen und lenken damit die Aufmerksamkeit auf die eigene Intervention.“ Zitatende. Es gibt nach Nieda-Rümelin einen anschwellenden Chor derjenigen, die dem politischen Tagesgeschäft in der Demokratie und in der öffentlichen Meinungsbildung die Kompetenz absprechen, um die anstehenden Menschheitsprobleme zu lösen. Sie setzen ihre ganze Hoffnung auf eine angeblich fachliche Expertise und auf technologische und ökonomische Praktiken. In der politischen Praxis in der Demokratie sollten demnach die großen Menschheitsaufgaben an Expertengremien delegiert werden. Unabhängig davon, wer diese bestimmt und einsetzt, wird dieser neue Elitarismus allerdings genau das Gegenteil des Beabsichtigten erreichen. Die populistischen Bewegungen, die die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform gegenwärtig gefährden, beziehen ihre Kraft aus der verbreiteten Einschätzung, dass es ohnehin nur kleine Eliten (man kennt die Aussage „die da oben, wir da unten“) sind, die über die Geschicke der Welt und des eigenen Landes entscheiden, während die demokratischen Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung lediglich eine Staffage sind, um das Volk ruhig zu stellen. In unterschiedlichen Varianten, die insbesondere rechts im politischen Spektrum angesiedelt sind, setzen die Populisten auf die unmittelbare Umsetzung des Volkswillens durch eine charismatische Führungsfigur, die die Volksmeinung artikuliert und machtvoll gegen diese Eliten durchsetzt. Und da die Demokratie und ihre Institutionen diese Transformation des Volkswillens in der politischen Praxis behindern würden, müssten sie mit mehr oder weniger radikalen Methoden zerstört werden. Der 6. Januar 2021 mit dem Angriff auf das Kapitol in den USA hat gezeigt, dass diese Entwicklung keineswegs unrealistisch ist. Dem müssen wir – so drückt es Nieda-Rümelin aus - den öffentlichen Vernunftgebrauch, eine Zivilkultur des respektvollen Umgangs und das Vertrauen auf die lebensweltliche Vernunft der Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie entgegensetzen. Ohne den öffentlichen Vernunftgebrauch und eine vitale Zivilkultur, die diesen trägt, kann die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform nicht bestehen. Wenn dieser öffentliche Vernunftgebrauch durch Ausgrenzung, Parzellierung, Diskriminierung, Intoleranz und Cancel Culture zugrunde ginge, wäre die Demokratie als eine Form der kollektiven Selbstbestimmung der Gleichen und Freien nicht zu retten. Soweit die Quintessenz aus diesem äußerst lesenswerten Aufsatz von Julian Nieda-Rümelin. Dass die Demokratie sich bei uns als wehrhaft erweist, beweisen die – wie ich schon zu Beginn betonte - Gott sei Dank mittlerweile ungezählten Demonstrationen für Demokratie und Meinungsvielfalt, für Toleranz und solidarisches Verhalten. Ein mutmachendes Zeichen, das aber nicht versiegen darf, damit wir auch künftig eine hör- und sichtbare Mehrheit von echten Demokratinnen und Demokraten sind und bleiben und nicht solche, die Demokratie als ein Recht des Stärkeren, als Überlegenheit irgendeiner Rasse vor allen anderen, als nur im na4onalistischen Kontext zu verstehende Verfassungsform begreifen. Und dafür braucht es, um auf Platon zurückzukommen, Politiker:innen, die etwas zu sagen haben, die Wissen und Charakter in den Vordergrund stellen, nicht das alleinige Streben nach Macht durch Wahl oder Wiederwahl. Dann werden sie auch hör- und wahrnehmbar sein und bleiben, dann werden sie die wichtigsten Trägerinnen und Träger unserer Demokratie sein, denen unser großer Respekt und unsere Dankbarkeit gebühren muss. Die Demokratie an sich mag dabei nicht immer perfekt sein. Aber sie ist mit Abstand die beste Staatsform, die man sich vorstellen kann, denn sie verbindet wie keine zweite das individuelle Wohl und die Rechte des einzelnen mit dem Allgemeinwohl. Sie allein gewährleistet individuelle Freiheit und Enxaltungsmöglichkeit, sie allein Gleichheit vor dem Gesetz, sie allein die Möglichkeit zur Beteiligung und Teilhabe, sie allein Meinungs- und Glaubensfreiheit, sie allein ein friedliches Zusammenleben, sie allein eine Zukunft in Würde. Und gerade deshalb dürfen wir eben nicht zuschauen, wie sich rechtsextreme Strömungen, ob in AfD, im Reichsbürgertum, in der Querdenkerszene und manch anderen Gruppierungen wieder breit machen. Wir dürfen nicht zusehen dabei, wie diese in zunehmenden Teilen der Bürgerschaft wieder gesellschaftsfähig werden. Dieses: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ gilt eben nicht für Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung, es gilt eben nicht für das Infragestellen der demokratischen Grundordnung, es gilt nicht für die Verharmlosung oder gar Negierung nationalsozialistischer Verbrechen. Es ist wie gesagt ermutigend, wieviele Millionen Menschen in Deutschland auf die Straße gehen, mit welch großer Begeisterung für die Aufrechterhaltung der Demokratie eingestanden wird. Das muss weitergeführt werden, unabhängig ob es sich um große Demonstrationen oder um eine einfache Parteiversammlung eines Ortsvereines handelt. Demokratie muss täglich gelebt werden, Demokratie muß täglich gegen rechtsextreme und braune, natürlich auch gegen linksextreme Umtriebe verteidigt werden. Demokratie ist wie Erziehung. Sie verlangt einem viel ab, es dauert oft lange, bis man zu Ergebnissen kommt, aber diese sind einfach überzeugend, nachhaltig, unvergleichlich und jeden Einsatz wert. Darum: Lasst uns gerade auch in Bezug auf die anstehende Europawahl, das zentrale Friedensprojekt der vergangenen 70 Jahre, daran denken, wie privilegiert wir hier leben, arbeiten und reisen dürfen. Lasst uns daran denken, dass trotz manchen bürokratischen Ärgers gerade die wirtschaftlichen ErrungenschaBen ihresgleichen suchen. Lasst uns daran denken, dass die Demokratie, ob in Deutschland, in zumindest weiten Teilen Europas und der demokratischen Welt gerade auch diejenigen eben nicht vergisst, die schwächer sind, die der Hilfe der anderen bedürfen, die in unterschiedlichste Notsituationen geraten sind. Ohne Europa in seiner jetzigen Form, ohne europäische Union, von der im Übrigen Deutschland gerade wirtschaftlich mit Abstand am meisten profitiert und die absolute Grundlage unser aller Wohlstands ist, ohne unsere gemeinsamen Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit, ohne all dies würden wir um ein Vielfaches ärmer und besorgter leben müssen. Ohne dieses Europa hätten wir eine ganz andere, eine um vieles bedrohlichere Zukunft, ohne dies Europa und seine Europäische Union sprechen auf dem ganzen Kontinent in kurzer Zeit wieder die Waffen, nicht die Menschen. Ohne dieses Europa gibt es keinen Frieden! Was wir seit fast 80 Jahren erleben dürfen, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie solange an einem Stück gegeben. Und in vielen Bereichen dieser Welt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass dies leider eben auch nicht der Normalzustand ist, sondern dass Kriege die Menschen um ihr Leben, um ihre Zukunft, um alles, was sie sich jemals aufgebaut haben, bringen. Machen wir daher Europa stark, erhalten wir eine starke und wehrhafte Demokratie, halten wir die Menschlichkeit und ihre Werte hoch! Und leben wir nicht nach dem Motto des Esels, der, wenn’s ihm zu bunt wird, auf’s Eis geht!Dabei sind wir alle gefordert, egal welchen politischen, auch parteipolitischen Hintergrund wir haben, egal welche Sozialisierung wir durchlaufen haben. Uns alle sollte das Streben nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach Solidarität, nach wirtschaftlichem Wohlstand, aber natürlich auch nach ökologisch guter Zukunft einen. Und wir sollten gemeinsam diejenigen im Auge behalten und politisch stellen, die all dies gerade nicht wollen, die in irgendwelchen Autokratien, in angeblich geschichtlich begründeten Herrschaftsphantasien sich geborgen fühlen und eine Zukunft sehen. Daher auch am Ende noch einmal der dringende Appell: Seien wir nicht bequem, seien wir nicht eintönig, lassen wir uns auf Vielfalt und Toleranz ein. Halten wir dabei auch Widerrede und gegenteilige Meinungen aus, aber vor allem: Schlafen wir in der Demokratie nicht, sonst wachen wir in der Diktatur auf! Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit! (gehalten von Altoberbürgermeister Christian Kegel am 10.April 2024)